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Absatzprognosen ohne Marktforschung: Wie geht das?
Kollektive Intelligenz – intelligent genutzt
Wie kommt man als Controller an notwendige Daten, Annahmen und Informationen, um möglichst belastbare Berichte und Prognosen erstellen zu können? Elektronische Prognosemärkte (EPM) sind eine Methode, welche das verteilte Wissen von Mitarbeitern zu einem vorgegebenem Thema in wenigen Tagen sammeln und in harte Zahlen umwandeln kann. Anhand von Fallstudien soll hier gezeigt werden, wie Unternehmen wie die Deutsche Telekom, Henkel, Syngenta und Tchibo EPM nutzen, um die Kosten der Informationsbeschaffung zu senken und zugleich deren Qualität zu erhöhen.
Funktionsprinzip
Elektronische Prognosemärkte sind web-basierte Informationsbörsen, die innerhalb von Unternehmen das Wissen von Mitarbeitern aus verschiedenen Abteilungen in kürzester Zeit bündeln können (Abbildung 1). Die Mitarbeiter sehen in einem EPM-Portal bestimmte Prognosefragen, z. B. „Wie wird der Absatz von Produkt X in KW14 sein?“. Die Teilnehmer geben Ihre Meinung ab und machen dabei auch einen Einsatz auf Ihre Prognose mit Spielgeld. Je sicherer man sich ist, desto mehr kann man einsetzen. Dieses System schafft einen Anreiz für Mitarbeiter, möglichst genaue individuelle Prognosen zu machen, denn je näher man am tatsächlichen Ergebnis liegt, desto mehr Spielgeld gewinnt man. Um einen echten Anreiz zu schaffen, können die Monatsbesten echte Preise gewinnen und erhalten unternehmensweite Visibility.
Abb. 1: Elektronischer Prognosemarkt
Das EPM-System bündelt alle abgegebenen Meinungen zu einer konsistenten Gesamtprognose, die nachweislich genauer1,2 ist als traditionelle Methoden, wie etwa statistische Schätzungen oder Umfragen. Zudem ist das System selbst-reinigend, d. h. diejenigen die oft schlecht tippen (oder mit Absicht falsch tippen) verlieren Spielgeld und haben bei der nächsten Prognosefrage weniger Spielgeld, wodurch ihr Einfluss auf die Gesamtprognose sinkt.
Die Henkel AG & Co. KG nutzt EPM in ihrer Supply-Chain-Planung, um mit genaueren EPM-Prognosen ihre Einkaufs- und die Produktionsplanung zu optimieren. Bei Henkel konnte das EPM-System die Prognosegenauigkeit um 15 Prozentpunkte steigern. Dieser Verbesserungssprung gelang, da der EPM-Ansatz zum ersten Mal das gesamte relevante Wissen aus Lager, Produktion, Vertrieb und Zentrale kurzfristig und aufwandsarm zusammen führen konnte, anstatt Prognosen nur auf dem Wissen einer kleinen Gruppe von Experten aufzubauen. In einer Region wie Nordamerika ergeben sich für Henkel durch die erhöhte Planungsqualität jährliche EBIT-Steigerungen im hohen zweistelligen Millionenbereich. Diese entstehen einerseits durch die Vermeidung von entgangenen Umsätzen, welche den größten EBIT-Impact haben, als auch durch die Optimierung von Rohstoffeinkauf und Lagerhaltung.
Anwendungsbereiche
Abbildung 2 zeigt typische Anwendungen von EPM. Die häufigsten Anwendungen umfassen:
- Regelmäßige Absatzprognosen verschiedenster Produkte und Dienstleistungen,
- Prognosen für Neuprodukte und -dienste zu denen noch keine historischen Daten vorliegen,
- Lieferung von Inputs für Projektanträge, z. B. Entwicklungskosten und -dauer sowie Umsatzpotential,
- Sowie die Schätzung einer Vielzahl von Risikoparametern und Wahrscheinlichkeiten.
Abb. 2: Anwendungsgebiete und Nutzen von EPM
Eine 4-jährige Studie von McKinsey & Co., welche 2010 veröffentlicht wurde, weist EPM als eine von 12 mittlerweile etablierten Web2.0-Methoden in Unternehmen aus.3 Darin wird der positive Einfluss derartiger Ansätze auf das Unternehmensergebnis erstmals empirisch nachgewiesen.
Kosten und Nutzen von EPM
Unternehmen setzen EPM primär aus zwei Gründen ein (Abbildung 2). Zum einen gilt es Informationskosten, die durch Marktforschung, kostenpflichtige externe Datenquellen und Analysten-Reports entstehen, zu senken. Das andere Ziel kann sein, die Qualität von Inputs, die in Controlling und Planung einfließen, zu erhöhen, wie im Falle von Henkel weiter oben gezeigt.
Als Controller ist man bei der Arbeit an Berichten, Budgets und Prognosen auf verschiedenste Informationen angewiesen, für die entweder hohe externe Kosten durch Marktforschung entstehen oder in aufwendigen internen Prozessen über verschiedene Abteilungen hinweg kostbare interne Ressourcen gebunden werden.
Die Tchibo GmbH beispielsweise nutzt für Ihre neuen Non-Food-Produkte einen Prognoseprozess bei dem regelmäßig Testverkäufe und Kundenbefragungen durchgeführt werden, um den Absatz der teilweise auf Bestellung gefertigten Produkte möglichst genau im Voraus treffen zu können. Um die hohen Kosten dieses Prozesses zu senken, hat Tchibo EPM als eine alternative Methode identifiziert. Tchibos Planungsteam in der Hamburger Zentrale vernetzte innerhalb weniger Wochen 100 der insgesamt über 2.500 Filialen mit einem EPM-System. Die Filialleiter besuchten regelmäßig nach Ladenschluss das EPM-Intranetportal und gaben Ihre Absatzprognosen zu geplanten Neuartikeln ab. Nach einer 5-wöchigen Testphase konnte das Team verifizieren, dass die EPM-Prognosen die gleiche Prognosegenauigkeit hatten, wie der bisherige Prozess und dabei 90% der Kosten einsparten! Dadurch wurde Tchibo in die Lage versetzt, seine Prognosekosten um einen hohen 7-stelligen Betrag pro Jahr zu senken, indem ein Teil der Testverkäufe und Befragungen durch EPM ersetzt wird.
Die Kosten eines EPM-Systems bewegen sich im mittleren 5-stelligen Bereich jährlich. Zudem sind bei der Ersteinführung Einmalkosten zu berücksichtigen, z. B. die Integration in bestehende Systeme und Prozesse. Die Amortisationszeit einer EPM-Investition einschließlich Ersteinführungskosten liegt unter einem Jahr, abhängig von den Kosten des Prozesses, welcher durch das EPM-System ergänzt oder ersetzt werden soll. Die günstige Kostensituation, welche EPM-Systeme durch Nutzung von Web-Technologien erreichen, ermöglicht auch mittelständischen Unternehmen sich dieser modernen Prognosemethode zu bedienen, die damit nicht nur Großkonzernen vorbehalten bleibt.
So nutzt beispielsweise ein mittelständisches Bauunternehmen ein EPM-System für verbesserte Auslastungsprognosen, um mit diesen seine mittelfristige Investitionsplanung zu optimieren. Daneben wird das kollektive Wissen der Mitarbeiter auch für strategische Prognosen genutzt, z. B. bei der Vorhersage das Wettbewerberverhaltens und der mittel- und langfristigen Markt- und Preisentwicklung.
Einführung von EPM im Unternehmen
Die Einführung eines EPM-Systems erfolgt üblicherweise in drei Stufen (Abbildung 3). In Stufe 1 gilt es in einer Pilotphase mit begrenztem Teilnehmerkreis zunächst Akzeptanz für den neuartigen Ansatz zu schaffen. Ein EPM-System soll das Wissen von Mitarbeitern einer oder mehrerer Abteilungen bündeln und somit muss man in der ersten Phase frühzeitig diese Abteilung(en) an den Tisch holen und in die Planung des neuen Portals mit einbeziehen. Zudem gilt es zu klären, welche organisatorische Einheit das EPM-System betreuen soll. Bei unternehmensübergreifender Nutzung bietet sich hierfür die HR-Abteilung an. Nutzt dagegen nur eine Abteilung das System, kann es innerhalb dieser Abteilung verwaltet werden.
Abb. 3: Einführungsplan
Aus Sicht der teilnehmenden Mitarbeiter kann ein EPM-Portal auf zwei verschiedene Arten zugänglich gemacht werden. Entweder integriert man das System in einem bestehenden Intranet-Portal, so dass Mitarbeiter das EPM-Portal mit ihren bestehenden Logindaten innerhalb des Intranet-Portals nutzen können. Oder das EPM-System wird als Standalone-Portal von einem Anbieter extern gehostet und die Mitarbeiter nutzen das Portal über eine gesicherte Internetverbindung.
Für das Management und Planer, welche die EPM-Prognosen nutzen möchten, bieten sich ebenfalls zwei Möglichkeiten der Einbettung in den Arbeitsprozess ein. Die Ergebnisse des EPM-Systems können automatisiert in ein bestehendes System, z. B. ERP-System, übertragen werden oder sie werden im EPM-Portal als Excel-Download für den Planer zur Verfügung gestellt.
In der ersten Einführungsstufe muss ein EPM-System dann seinen Nutzen unter Beweis stellen. Dazu sollten in einem ca. 2-monatigem Testbetrieb mit begrenztem Teilnehmerkreis die Prognosegenauigkeit getestet und Learnings gesammelt werden. Verläuft die erste Stufe zufriedenstellend, so wird in Einführungsstufe 2 das System in dem Arbeitsalltag integriert und weiteren Teilnehmern zugänglich gemacht. In Stufe 3 befindet sich das EPM-System in seinem Endausbauzustand und wird regelmäßig von Mitarbeitern genutzt.
Je nach Anzahl der zu prognostizierenden Zielgrößen, benötigt man eine Mindestanzahl aktiver Teilnehmer, um valide EPM-Prognosen erhalten zu können. Als Daumenregeln gelten: 50 aktive Teilnehmer für 30 Prognosegrößen (z. B. 10 Produkte in 3 Regionen); 100 aktive Teilnehmer für 60 Prognosegrößen; 200 aktive Teilnehmer für 100 Prognosegrößen. Ein Teilnehmer nimmt typischerweise an mehreren Prognosen teil, wodurch für jede Prognose eine ausreichende informationsmenge zusammengetragen wird. Wichtig zu verstehen ist, dass es bei EPM anders als bei Umfragen, keine große repräsentative Teilnehmerzahl braucht (=representative crowd). Vielmehr benötigt man die richtigen Teilnehmer, welche relevante Informationen zu den jeweiligen Prognosen haben (= „wise“ crowd).
Die Deutsche Telekom hat entlang dieses 3-stufigen Best-Practice-Prozesses über einen Zeitraum von 6 Monaten EPM schrittweise eingeführt. In Stufe 1 wurden zunächst Prognosen über das Potential neuer Produkte und strategische Prognosen in das EPM-System eingestellt. Es wurden ca. 1.000 Mitarbeiter aus dem Marketing, dem Netzbetrieb, der Forschung und der Konzernstrategie eingeladen. Die Teilnehmer konnten immer nur die Prognosen sehen, welche für sie relevant waren. Damit konnte das Management auch das Targeting von Wissensträgern zu verschiedenen Themenbereichen testen.
Nach Ablauf des Testbetriebs in Stufe 1 konnte der Nutzen des EPM-Systems für das Marketing und die Strategie besser quantifiziert werden. So konnte das System in nur 4 Tagen über 18.000 Meinungen zu verschiedenen Produkten von den deutschlandweit verteilten Mitarbeitern sammeln und in quantitative Zahlen für den Business Case umwandeln. Damit konnte das Potential neuer Produkte mit einer weitaus breiteren Fundierung beurteilt werden, als es bei Analysen eines kleinen Experten-Gremiums der Fall gewesen wäre. Im Strategie-Bereich bewies das EPM-System eine um 5 Prozentpunkte höhere Prognosegenauigkeit als die Referenzprognosen der besten nationalen und internationalen Experten.
Mit diesen Ergebnissen konnte der Weg für eine konzernweite Implementierung des EPM beschritten werden. Das System wurde bei der Konzern-HR verankert und allen Bereichen zugänglich gemacht. Jeder Bereich kann jederzeit Prognosefragen einstellen und passende Teilnehmergruppen dazu einladen. Bei entsprechender Aktivität lagen die kollektiven Prognoseergebnisse nach nur 3 Tagen vor, was insbesondere vom Top-Management honoriert wird, welches regelmäßig schnelle Inputs für kritische Entscheidungen benötigt.
Fazit
In Unternehmen liegt ein ungehobener Schatz: Das Wissen der Mitarbeiter über Märkte, Produkte, Wettbewerber und Kunden. Dieser Schatz kann jetzt mit modernen Web-Methoden erstmalig nutzbar gemacht werden. Anders als bei Wikis, Foren und Blogs horten Elektronische Prognosemärkte dieses Wissen nicht nur in endlosen Textsammlungen, sondern wandeln es direkt in entscheidungsrelevante quantitative KPIs um. Um den Schatz im eigenen Unternehmen zu heben, sollten Unternehmen sich Gedanken über zu prognostizierende Zielgrößen machen und mögliche Teilnehmer identifizieren.
Fußnoten
1 Ivanov, A. (2009): Using Prediction Markets to Harness Collective Wisdom for Forecasting, in: Journal of Business Forecasting, 23. Jg., H. 3, S. 9 – 14
2 Berg, J.; Forsythe, R.; Nelson, F.; Rietz, T. (2000): Results from a Dozen Years of Election Futures Markets Research, University of Iowa
3 McKinsey Quarterly, The rise of the networked enterprise: Web 2.0 finds its payday, Dezember 2010
Interview von Dietmar Pascher, Trainer der Controller Akademie, mit Christian Halemba und Aleksandar Ivanov
Pascher: Ich habe in unserem Vertriebscontrolling-Seminar durch Herrn Klaus Schikora von „Crowd Forecasting” gehört. Ich dachte spontan, das ist etwas für unsere Controller. Wie lange arbeiten Sie schon mit Elektronischen Prognosemärkten (EPM)?
Halemba / Ivanov: Seit 5 Jahren beschäftigen wir uns mit diesem Thema und haben erfolgreiche Installationen in den unterschiedlichsten Branchen.
Pascher: Gerade für uns Controller ist es wichtig, möglichst realistische Budgets mit dem Management zu erarbeiten. Dabei wird beim Absatz oft tief und bei den Kosten hoch gestapelt. Man will ja auf der sicheren Seite sein und seine Ziele auf alle Fälle erreichen. So ein „Collective Forcasting” könnte da sicher etwas mehr Objektivität bringen, oder?
Halemba / Ivanov: Ja genau! Ein EPM-System scheint die einzig politisch akzeptable Lösung, da hier niemand seine Interessen in die Prognose einfließen lassen kann bzw. EPM diese selbst korrigiert. Bei schlechten (zu tief oder zu hoch gestapelten) Schätzungen verspielt der Teilnehmer mehr und mehr von seinem Spielgeld und damit verlieren seine zukünftigen Schätzungen an Gewicht.
Pascher: Welche Erfahrungen haben Sie im Zusammenhang mit Zielvereinbarungen gemacht?
Halemba / Ivanov: Es braucht die Unterstützung und den Willen vom Top Management, EPM als Basis für die Zielvereinbarungen zu etablieren.
Pascher: Worauf ist bei der Einführung besonders zu achten?
Halemba / Ivanov: Wie bei allen Projekten ist ein interner Champion nötig, der voll hinter der Methode steht. Wir empfehlen zunächst immer ein Pilotprojekt, um Learnings und Response der Organisation zu prüfen. Dabei braucht es zunächst für Mitarbeiter relevante Themen (z.B. Umsatzprognose), um ihr volles Interesse zu haben.
Pascher: Was sollte auf alle Fälle vermieden werden?
Halemba / Ivanov: Wichtig ist, dass die Teilnehmer nicht gegeneinander antreten und eine Rangliste der besten Schätzungen entsteht. Wir nutzen ein Punktesystem (Spielgeld), welches jedem Teilnehmer individuell Punkte entsprechend seiner Leistung automatisiert vergibt. EPM sollte nicht genutzt werden, wenn Prognosen keinen Wert stiften – in manchen Unternehmen werden Prognosen nur nebenbei gemacht und am Ende durch andere Zielvorgaben ersetzt. Damit verkommt das Prognoseteam zur „Alibi-Funktion”.
Pascher: Ich persönlich kann mir sehr gut vorstellen, dass „Collective Forecasting” zu objektiveren Prognosen führt. Danke für das Interview.
Christian Halemba, Aleksandar Ivanov im Interview mit Dietmar Pascher
Erschienen in: Controller Magazin, September/Oktober 2011, S. 30-33